Der technologische und sozioökonomische Fortschritt hat Gesundheitssysteme und medizinische Rahmenbedingungen schon immer beeinflusst. Diese Dynamik wird jedoch zunehmend volatil. Zum Beispiel steigt die Lebenserwartung in den Industrieländern – und in gewissem Maße auch in den Entwicklungsländern – messbar. Darüber hinaus belasten Black-Swan-Ereignisse wie Covid-19 und der russische Angriff auf die Ukraine die nationalen Gesundheitssysteme (und die zugrundeliegenden Volkswirtschaften). Den Entscheidungsträger:innen im Gesundheitswesen ist die Notwendigkeit einer Umgestaltung zwar bewusst, doch sind sie häufig durch politische und budgetäre Rahmenbedingungen eingeschränkt.
Gesundheitssysteme stehen unter Druck, veraltete Strukturen zu modernisieren
In der Nachkriegszeit konzentrierte sich die Gesundheitsversorgung auf einmalige Eingriffe oder (wenige) regelmäßige Behandlungen. Ansteckende Krankheiten und Arbeitsunfälle hatten Priorität. Seitdem wächst der Bedarf an einem kontinuierlichen Umgang mit Zivilisationskrankheiten, wie z.B. Herzinsuffizienz oder Diabetes, sowie an der Prävention von Krankheiten.
Dennoch ist der strukturelle Aufbau der Gesundheitssysteme nach wie vor weitgehend wie vor über 50 Jahren. Obwohl bei der Entwicklung von Medikamenten und Therapien erhebliche Fortschritte erzielt wurden, hinkt die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen stark hinterher, und die Patient:innenzentrierung bleibt in den meisten Fällen ein eher abstraktes Konzept. Wie können nun die modernen Gesundheitssysteme ihre Resilienz erhöhen, Nachhaltigkeit gewährleisten und vor allem die Lebensqualität der Patient:innen verbessern?
Zwar sind interne Verbesserungen und wirksame Reformen ein solider Weg, doch sind sie oft wenig ambitioniert und tendenziell langsam. Private Innovationen, die sowohl von etablierten Unternehmen als auch von aufstrebenden Start-ups ausgehen, können eine wirkungsvolle Ergänzung darstellen.
EIT Health - ein von der EU unterstütztes Innovationsnetzwerk im Gesundheitswesen - empfiehlt genau aus diesem Grund die Schaffung eines kollaborativen Umfelds1). Ein solches sollte verschiedene gesellschaftliche Interessengruppen, wie Patient:innen, politische Entscheidungsträger:innen und die Industrie, einbeziehen.
Die Pharmaindustrie ist schon seit einiger Zeit ein Innovationsschwergewicht - sowohl in Bezug auf angemeldete Patente2) als auch auf umgesetzte Produkt- und Prozessverbesserungen3). Während bereits etablierte Pharmaunternehmen neue Moleküle und immer modernere Therapien entwickeln, fehlt ihnen die Erfahrung, um Innovationen „beyond the pill" zu schaffen. Auf der anderen Seite ergänzen Medizintechnikunternehmen das Pharma-Know-how durch eine vermehrte technische und digitale Expertise. Dies führt zu einer Welle von neuartigen medizinischen Geräten, DTx, Software und medizinischen Informationssystemen.
Neue externe Ideen können die Behandlungen verbessern und gleichzeitig Kosteneinsparungen bewirken
Im MedTech-Bereich sehen wir aktuell einen Anstieg kosteneffizienter Diagnosehilfen und -geräten. Solche Produkte können die Frühdiagnose und den Start der Behandlung in einem frühen Stadium erheblich unterstützen und dazu beitragen, kostspielige Krankenhausaufenthalte und akute Eingriffe zu vermeiden.
In Regionen mit unterentwickelter medizinischer Infrastruktur können günstigere Alternativen zu kostenintensiven Geräten es den Ärzt:innen ermöglichen, Untersuchungen durchzuführen, die bisher mit langen Wartezeiten oder regionaler Exklusivität verbunden waren. Auf individueller Ebene bieten Softwarelösungen wie KI/AR-Apps den Ärzt:innen die Möglichkeit, Patient:innendaten zu interpretieren und seltene Krankheiten zu erkennen.
Spotlight Powerful Medical
Powerful Medical4) - ein in der Slowakei ansässiges Start-up - und sein Produkt PMCardio ermöglichen es medizinischen Fachkräften, Standard-EKG-Tabellen zuverlässiger zu interpretieren. Ärzt:innen „scannen" den Ausdruck einfach mit dem Smartphone, und der PMCardio-Algorithmus digitalisiert die Daten innerhalb von Sekunden. Anschließend schlägt die App die nächsten Schritte zur endgültigen Diagnose oder zur Einleitung einer Behandlung gemäß den neuesten kardiologischen Leitlinien vor.
Auf systematischer Ebene können integrierte medizinische Informationssysteme Ärzt:innen in Einzel- oder Gruppenpraxen sowie in medizinischen Einrichtungen wie Krankenhäusern unterstützen. Das Europäische Parlament hat bereits Schlüsselbereiche identifiziert, in denen medizinische Informationssysteme und KI von großem Nutzen sein können. Neben der laufenden klinischen Praxis und der biomedizinischen Forschung können Softwarelösungen auch die Gesundheitsverwaltung und das Management der Patient:innenflüsse unterstützen5).
Eine wirksame Digitalisierung und Bereinigung vorhandener Daten sowie sichere Kommunikationskanäle zwischen medizinischen Fachkräften in verschiedenen Einrichtungen können die Zusammenarbeit maßgeblich erleichtern.
Spotlight Philips ICU telemedicine program
Philips hat Fernüberwachungssysteme in US-Krankenhäusern eingerichtet, die ein effektiveres Monitoring während der Nacht- und Wochenendschichten ermöglichen. Dies führte im Laufe von 15 Monaten zu Einsparungen von USD 4,6 Mio. und zu einer Zunahme der Entlassungen in den Homecare-Bereich6). Gleichzeitig gingen die Entlassungen in längerfristigen stationären Aufenthalt (Langzeitkrankenhäuser) und die Wiedereinweisungen von Patient:innen zurück.
Darüber hinaus können digitale Hilfsmittel auch mit herkömmlichen Medikamenten kombiniert werden, was eine wirksamere sowie besser personalisierte Behandlung und Überwachung ermöglicht. Dies gilt sowohl für das traditionelle als auch telemedizinische Umfeld.
Engagierte Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Akteuren ist der Schlüssel zur Modernisierung des Gesundheitswesens
Die Innovationsmöglichkeiten in der Pharma- und MedTech-Branche können die Lebensqualität der Patient:innen enorm verbessern und zusätzlich die Kosten des Gesundheitssystems senken. In der Praxis bleiben solche innovationsorientierten öffentlich-privaten Partnerschaften jedoch oft hinter den Erwartungen zurück.
Welche Grundfaktoren müssen wir also sicherstellen, um private Innovationen zu fördern und diese in den Gesundheitssystemen wirksam umzusetzen?
Zuerst muss ein kooperatives Umfeld geschaffen werden. Das klingt zwar abstrakt, aber in der Praxis müssen Netzwerke und Plattformen, einschließlich der Industrie, der Regulierungsbehörden, der medizinischen Fachkräfte und der öffentlichen Behörden, eingerichtet und mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet werden. Klare Zielsetzungen sind dabei essenziell. Zweitens müssen unbürokratische Finanzierungsmöglichkeiten gegeben sein. Falls die vorhandene Risikokapital- und Angel-Investoren-Szene nicht stark genug ist, sollten öffentliche Zuschüsse und andere Formen staatlicher Unterstützung in Betracht gezogen werden. Drittens - und der wahrscheinlich komplizierteste Aspekt bei der Ermöglichung offener Innovation in Gesundheitssystemen - sollen kulturelle und organisatorische Silos aufgebrochen werden. Entscheidungsträger:innen müssen somit lernen, sich nicht auf historische Prozesse innerhalb ihres traditionellen Fachgebiets zu beschränken. Stattdessen ist es ratsam, dass diese den möglichen Mehrwert auf einer systemweiten Ebene betrachten. Viertens müssen für eine wirksame, offene Innovation zentrale Akteure außerhalb der F&E-Abteilungen ebenso in die Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse einbezogen werden. Unter anderem können Patient:innen sowie Stakeholder:innen des Gesundheitswesens (sowohl Mediziner:innen, als auch Verwaltungsexpert:innen) verschiedene Perspektiven beisteuern und dadurch einen wertvollen Beitrag leisten. Innovative Vorhaben können und werden dennoch weiterhin häufig scheitern. Wir müssen lernen, Misserfolge zu akzeptieren, transparent damit umzugehen und vor allem aus ihnen zu lernen - auf Produkt-, Prozess- und Systemebene.
Zusammenfassend
- Die Gesundheitssysteme sind in vielen Fällen noch auf Strukturen aus der Nachkriegszeit aufgebaut und hinken daher bei der Erbringung von Leistungen und der Patient:innenzentrierung hinterher. Allerdings gibt es einen enormen Fortschritt bei den verfügbaren therapeutischen Methoden.
- Gleichzeitig bringt die Pharma- und MedTech-Industrie wie kaum eine andere Branche Innovationen auf Produkt- und Prozessebene hervor. Diese umfassen sowohl Hardware- als auch Softwareelemente.
- Öffentlich-private Partnerschaften sind eine geeignete Methode, um Innovationen der Industrie nutzbar zu machen und sie in das Gesundheitssystem zu implementieren. Dessen Leistung kann somit gesteigert sowie die Kosten gesenkt werden.
- Ein solcher offener Innovationsansatz erfordert jedoch Engagement, eine wirksame Steuerung, Finanzierung und bereichsübergreifende Zusammenarbeit - sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Umsetzung
Ausblick
Es liegt auf der Hand, dass strategische Kooperationen sowie externe Innovationen in der Gesundheits- und Pharmaindustrie eine große Rolle bei der Verbesserung des Patient:innenlebens spielen. Um erfolgreiche Partnerschaften zu erreichen, müssen die großen Pharmaunternehmen ihre derzeitigen Geschäftsmodelle neugestalten. Die Details dazu finden Sie in unserem nächsten Artikel.
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Autor:
Maxim Lebedev
maxim.lebedev@bdo.at
+43 5 70 375 - 1287
1) EIT Health https://eit.europa.eu/sites/default/files/eith-thinktank-report_healthcare-system-resilience-and-sustainability_2.pdf
2) LexisNexis Innovation Momentum Report 2023 | LexisNexis Intellectual Property Solutions (lexisnexisip.com)
4) Powerful Medical’s PMCardio https://www.powerfulmedical.com/pmcardio
5) European Parliament https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2022/729512/EPRS_STU(2022)729512_EN.pdf
6) Philips eICU https://www.usa.philips.com/healthcare/resources/landing/teleicu
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